Alexandra Le Faou

Der Sprachalchemist im Bedeutungslabor

Your Brain is Your Brain · Big Ideas

 

Adib Fricke ist ein Sprachalchemist im Bedeutungslabor. Als ich seine Arbeit vor fast 20 Jahren kennenlernte, begegnete ich Wörtern, sogenannten Protonymen, wie MIPSEL, QUIX, FLOGO oder – mein Lieblingsprotonym – SMORP. Diese erfand er im Rahmen seines 1994 gegründeten Unternehmens The Word Company und bot sie zum Erwerb an, samt ausführlicher Geschäftsbedingungen. Seitdem sind zahlreiche Projekte um Wort und Text entstanden, veröffentlicht und ausgestellt worden. Projekte mit Titeln wie »Words to Go« II, ONTOM, QUOBO oder auch Marmelade aus Mexiko, eine Installation mit dem, was andere als Anfragen in Suchmaschinen eingegeben haben.

Bereits um 1990 entwickelte er mit Das Lächeln des Leonardo da Vinci einen Zufallsgenerator, der Sätze zur bildenden Kunst erzeugt und bediente sich schon da der neuen Technologien, um neue Formate zu erkunden und damit auch neue Wege des kreativen Prozesses zu erforschen. Auf Computer-Monitoren waren in Ausstellungen solche fantastischen Echtzeit-Kombinationen zu lesen wie »Mir wurde gekündigt, weil ich der Meinung bin, dass Kunst im Grunde sinnlos ist.«, »Meine Recherchen haben ergeben, dass Joseph Beuys doch nicht so gut war.« oder »Ist es wahr, dass Marcel Duchamp an seinen Fingernägeln kaute?«

Im Rahmen des Bedeutungslabors hat sich Fricke auf das komplexe Feld der Neurowissenschaften begeben, insbesondere der Neuroplastizität, d.h. der Fähigkeit des Gehirns, sich permanent zu verändern, der Neuroästhetik, die Theorien zu den neurologischen Grundlagen für die Wahrnehmung von Kunstwerken entwickelt, sowie der Kreativitätsforschung. Gegründet, um das Projekt Your Brain is Your Brain (2013) zu begleiten, erweitert das Bedeutungslabor das Experimentierfeld des Künstlers und schafft eine Plattform für seine Beschäftigung mit Fragen zur Funktion des menschlichen Gehirns.

 

Das Bedeutungslabor als Erweiterung des Experimentierfeldes

Fricke etabliert diese Plattform als Labor, nicht als Atelier oder Studio. Er entfernt sich dezidiert von den Modellen der Künstlerwerkstatt, die wir mit dem Ort, an dem Kunst entsteht, üblicherweise assoziieren – sei es die Werkstatt der Renaissance mit dem Meister und seinen Schülern oder Andy Warhols "Factory" in New York, sei es Marcel Broodthaers’ Atelier als Decorum oder Francis Bacons Studio als chaotische Höhle der Inspiration.

Besucht man das Studio bzw. das Labor von Fricke in Berlin, findet man nichts dergleichen – sondern einen Schreibtisch, einen Computer, jede Menge Wörterbücher, wissenschaftliche Studien, skurrile Ratgeber zum Thema Kreativität – und den Künstler selbst. Die Werkstatt ist eine virtuelle Werkstatt, ihr Ort ist das Gehirn des Künstlers. Die Rohstoffe sind die Sprache und zugleich die Experimente, wie Sprache Bedeutung erzeugt und vermittelt.

Das Laboratorium, aus dem Lateinischen labor für »Anstrengung, Arbeit, Mühe«, im Französischen labeur, bezeichnete im 16. Jahrhundert die Arbeitsstätten der Alchemisten und Apotheker und seit dem 19. Jahrhundert die Forschungsstätten im Bereich der Chemie, Physik oder Biologie. Es sind geschlossene Räume, in denen natürliche und wissenschaftliche Phänomene und Prozesse untersucht werden.

In seinem Bedeutungslabor hantiert Fricke mit der Sprache und beobachtet, wie Bedeutung sich konstituiert. Der Sprachalchemist kocht, rührt, mischt, lässt sich überraschen, verwirft, reduziert, fragmentiert, extrahiert. Und liefert dem Publikum das Kondensat seiner Recherchen: ein sichtbares, fassbares Ergebnis, das den Forschungsprozess selbst in reduzierter Form artikuliert. Mit dem Bedeutungslabor schafft der Künstler einen Ort, an dem Kreativität und Kunst zeitgleich entstehen und erforscht werden, einen Ort, an dem der kreative Prozess zum Gegenstand des Kunstwerks wird und Form annimmt.

Seit Ende der Achtzigerjahre Jahre beschäftigt er sich mit der Sichtbarmachung von Wort und Text, mit deren physischer Präsenz im Raum – im Ausstellungsraum wie im öffentlichen Raum. Was bei Fricke fasziniert, ist der Spagat zwischen formaler Strenge und seinem spielerischen Manipulieren der Formen. Man spürt einen wahren Genuss an der Formbarkeit der Sprache und an dem endlosen Potential ihrer Gestaltung. Wenn der Künstler in dem erstmalig im Kunstverein Ingolstadt präsentierten Projekt Big Ideas den Betrachter mit »SHARE YOUR ENTHUSIASM« anspricht, spricht er damit auch sich selbst an.

 

Der Ausstellungsraum als Denkraum

Die zwölf Aufforderungen in der Installation »Big Ideas« klingen wie zwölf Gebote des kreativen Genius. Nicht ohne Ironie gibt uns der Künstler den Anstoß und zeigt uns den schöpferischen Weg zu den big ideas, den großen Ideen: Folgen wir den Geboten, wird der Genius, der in jedem von uns haust, richtig wach geweckt.

Die Kunst von Fricke soll den Denkprozess beim Betrachter unmittelbar auslösen, der Ausstellungsraum wird zum Denkraum, das Experimentierfeld des Bedeutungslabors wird auf die Besucher erweitert, die aufgefordert, ja sogar herausgefordert werden, der eigenen Kreativität freie Bahn zu lassen.

Aus den Mäandern des kreativen Geistes extrahiert Fricke die Quintessenz von dem, was Kreativität ist, und verleiht dieser eine physische Präsenz. Sprachlich auf das Wesentliche reduziert – wie »COLLECT AND CONNECT«, »IMAGINE SOMETHING THAT CAN’T BE DONE« oder das wunderbare »DO SOMETHING INTERESTING« – werden die von Fricke formulierten Botschaften auch sensorisch wahrgenommen.

Der Einsatz von Farben war bei Fricke schon in frühen Projekten ein wirksames Mittel, die materielle Präsenz von Sprache zu unterstreichen und die Formbarkeit von Wörtern wirkungsvoll und dynamisch zu präsentieren. In »Your Brain is Your Brain« und erst recht in »Big Ideas« wird die Farbpalette deutlich erweitert. Die Farben erinnern an frühe Darstellungen des Gehirns, bei denen Gehirnregionen und ihnen zugedachte Funktionen mit bestimmten Farbflächen markiert wurden. Die regelrechte, jedoch kontrollierte Explosion von Farben in »Big Ideas« spiegelt auch die bunte Bildwelt heutiger Gehirn-Scans wider.

Die Intensität der Farbauswahl und -kombinationen zusammen mit den wechselnden Dimensionen der Sätze, die in den Leuchtkästen an Tiefe gewinnen und uns entgegenkommen, sorgen für unvermeidbare, spontane Reaktionen im Kopf des Betrachters. Wir werden angesprochen, wir werden eingeladen, wir werden verführt, wir werden ermutigt. Die Be-Geist-erung soll ansteckend sein und sie soll geteilt werden.

 

Ein kollaboratives Experimentierfeld

Mitdenken und teilnehmen – das Kollaborative – ist ein wesentliches Element des kreativen Prozesses innerhalb des Bedeutungslabors. Damit knüpft Fricke an die traditionellen Arbeitsmodelle des wissenschaftlichen Labors damals wie heute an. Der Sprachalchemist ist kein einsamer Forscher, sondern ein Vermittler, der das Denken des Denkens zeigt und hinterfragt.

»Your Brain is Your Brain« ist der Titel des zweiten Teils von Frickes Ausstellung in Ingolstadt, einem Projekt, das im Mai/Juni 2013 erstmalig in Berlin gezeigt wurde: Zehn Schlagzeilen zum menschlichen Gehirn wurden auf hundertzehn großformatigen Plakatflächen in den Stadtteilen Kreuzberg, Schöneberg und Berlin-Mitte präsentiert. In Ingolstadt, wo diese u.a. in Bussen des Stadtverkehrs (INVG) gezeigt werden, wird das Experimentierfeld nicht nur räumlich, sondern auch virtuell erweitert; das Publikum ist eingeladen, auf die Arbeit zu reagieren und die eigenen Impressionen fotografisch einzufangen und auf Flickr.com zu teilen.

Die Verfremdung bzw. die Aneignung öffentlicher Flächen als Ausstellungsfläche ist kein neues Konzept in der Arbeit von Adib Fricke und auch nicht in der zeitgenössischen Kunst. Doch sind es bei Fricke keine Guerilla-Aktionen, sondern kollaborative, als System streng organisierte Projekte. Bei »Words to Go«, II hatte Fricke im Jahr 2000 jeweils eins von drei Protonymen – MIPSEL, RITOB und SMORP – auf die Rückseiten von 200.000 regulär nutzbaren Fahrscheinen des Verkehrsverbunds Nürnberg drucken lassen.

Immer löst er dabei eine subversive Irritation, eine latente Konfrontation aus – über die reduzierte Form, die auch Essenz der Werbung ist, und durch den unerwarteten Charakter der Botschaft. Unvermeidlich denkt man an die Billboards entlang der Autobahnen in den USA, wo die Reisenden unmittelbar von einem höheren Wesen angesprochen werden: »We need to talk. I will meet you at church on Sunday«, signiert: »God«. Mit Fricke haben wir es mit einem viel subtileren Demiurgen (abgeleitet von altgriechisch dēmios für »öffentlich« und érgon für »Werk«) zu tun, dessen wahre Identität in einer fruchtbaren Kollaboration zwischen Neurowissenschaftlern und dem Künstler steckt und der sich für den anonymen Betrachter auf der Straße etwas rätselhaft als Bedeutungslabor.com identifizieren lässt. Ein Demiurg, der sich den Worten verpflichtet hat, so wie das Motto von The Word Company 1994 lautete: »In Words We Trust«.

»Your Brain is Your Brain« entstand in Kollaboration mit Forschern und Forscherinnen des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, die Kurztexte zu den jeweiligen Schlagzeilen beigetragen haben und somit den Weg zu ihrer reduzierten Form greifbar machen. Die Interaktion Forscher : Künstler wird auf der Online-Plattform bedeutungslabor.com deutlich. Mit der Aktion in Ingolstadt wird die Experimentierzone ins Unendliche erweitert. Das kollaborative Element findet programmatisch im Titel des Projekts »Your Brain is Your Brain« seinen konkreten Ausdruck, die universelle Erfahrung könnte auch in »My Brain is Your Brain« oder »Your Brain is My Brain« ihren Ausdruck finden – nicht als Aneignung der Denkprozesse Dritter, sondern als Ausdruck einer gemeinsamen, verbindenden Erfahrung.

Bereits Ende des 19. Jahrhunderts erkannte der amerikanische Bildungsreformer Daniel C. Gilman die Wandlung des Labors vom geschlossenen Raum zur offenen Experimentiersphäre und schrieb: »Vielmehr ist die ganze Welt ein großes Labor, in dem die menschliche Gesellschaft eifrig experimentiert.«

 

Alexandra Le Faou lebt und arbeitet in Paris.
Der Text entstand als Einführung zur Ausstellung »Bedeutungslabor« im Kunstverein Ingolstadt, 2014,
und ist auch im Katalog »Big Ideas« veröfentlicht.

© 2014 bei der Autorin