Kirsten Johannsen

Zehntausend Schritte

Your Brain is Your Brain

 

Seit ich eine Zehntausend-Schritte-App auf meinem Mobiltelefon installiert habe, gehe ich zur Erbauung von Körper und Geist täglich eine Runde durch meinen Kiez und darüber hinaus. Da passt es gut, dass gleich zu Beginn meiner promenadologischen Unternehmungen der Künstler Adib Fricke mit seiner Installation your brain is your brain aufwartet. Wie ich seiner Projekt-Webseite bedeutungslabor.com entnehme, befasst sich das Kunstprojekt mit den Funktionsweisen des menschlichen Gehirns und kombiniert diese mit der ästhetischen Wahrnehmung. Fricke hat sich mit Ergebnissen neurowissenschaftlicher Forschung auseinandergesetzt. Herausgekommen ist eine zehnteilige Arbeit, die im öffentlichen Raum in den Berliner Stadtteilen Kreuzberg, Schöneberg und Mitte auf 110 Plakatwänden und im Internet zu sehen ist.

Es ist der 28. Mai 2013 und ich habe zehn Tage Zeit, um das Kunstwerk gehend zu erkunden. Als Auftakt plane ich eine erste Route, die mich entlang der Yorckbrücken zur Kurfürstenstraße führen soll. In der Hornstraße treffe ich auf die erste Plakatwand. Auf grünem Grund stehen in weißen Buchstaben die Worte dein Darm denkt mit. Ich reibe mir verwundert die Augen. Dieser Satz entspricht ganz und gar nicht der Gedankenreise, auf die ich geschickt werden wollte – oder vielleicht doch? Hat nicht das aufflackernde, ungute Gefühl, das sich gerade in meiner Magengegend breit macht, etwas mit der Aussage des Kunstwerks zu tun? Schnell erfahre ich über mein mitgeführtes Smartphone, dass ich mit der Feststellung dieser Wechselwirkung richtig liege, denn in den Neurowissenschaften wird der Darm auch als »zweites Gehirn« bezeichnet. Ihm werden Fähigkeiten attestiert, die über die reine Intuition hinausgehen und direkten Einfluss auf unsere alltäglichen Entscheidungen nehmen. Und diese betreffen nicht nur das tägliche Essen.

Während ich der Intention des Künstlers nachhänge, setze ich meinen neurowissenschaftlich inspirierten Spaziergang in Richtung Yorckbrücken fort. Ich gehe vorbei an der Brachfläche des zukünftigen Möckernkiezes. Möbelhaus und Gebrauchtwagenhändler existieren nicht mehr, stattdessen nichts als baubedingte Leere. Unter der denkmalgeschützten Brückenanlage erblicke ich dann eine blaue Plakatwand mit der Aufschrift deine Synapsen warten auf Erregung und direkt daneben eine weitere, gelbe mit dem Satz deine Erinnerungen sind unwirklich.

Ich bleibe stehen. Auf der Webseite lese ich, wie neuronale Schnittstellen, sogenannte Synapsen, durch geeignete Informationen und damit durch chemische Substanzen stimuliert werden können. Wohingegen im anderen Satz anklingt, dass unser Gedächtnis uns betrügt und stetig eigene Geschichten zusammensetzt, die nicht zwangsläufig mit der gelebten Wirklichkeit übereinstimmen müssen. Vielmehr kombinieren wir Erinnerungsfragmente zu immer neuen Inhalten. Demnach ist es also gut möglich, dass der Gebrauchtwagenhändler, der einst den Platz belegte und dessen Gegenwart in mir stets eine zwielichtige Atmosphäre erzeugte, alsbald in meiner Erinnerung durch eine Imbissbude ersetzt werden wird, angeregt und abgespeichert durch meinen aktuellen Hungerimpuls.

Ich gehe weiter. Kurze Zeit später entdecke ich den Satz dein Ich ist eingebildet. Die orangefarbene Plakatwand steht erhöht an einer Böschung zur Yorckstraße, direkt neben dem Eingang zur U-Bahn Linie 7. Die Stelle ist gut einsehbar von allen Seiten, von Fußgängern, Rad- und Autofahrern. Auch hier frage ich mich spontan, ob der Satz persönlich zu nehmen sei. Die Zweideutigkeit irritiert, doch regt sie mich zugleich zum Denken an. Die Webseite verrät mir, dass hier nicht die Eitelkeit, sondern die Einbildungskraft gemeint ist. Gehirn und Subjekt bilden eine Einheit, aus der alles Tun, Denken und Fühlen entspringt. Diese Verbindung ermöglicht dem Individuum, sich in der Welt zurechtzufinden. Es gibt keine tonangebenden Wesen in unseren Köpfen, die uns lenken oder kommandieren. Vielmehr ist das Selbst eine Illusion und biochemische Prozesse bestimmen das gut tausenddreihundert Gramm schwere Denkorgan!

Die nächsten Standorte führen mich hoch zu den Gleisen der S-Bahnstation Großgörschenstraße. Hier treffe ich auf die Sätze du denkst niemals dasselbe und dein Gehirn macht dich glücklich. Ich setze mich auf eine Bank in die Sonne und denke an den Ausspruch des dadaistischen Künstlers Francis Picabia: »Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.« Picabia ging es um Gedankenvielfalt und das fortwährende Ausprobieren neuer künstlerischer Stile. Eingetretene Pfade oder gar ein Wiedererkennungsmerkmal bedeuteten für ihn schöpferischen Stillstand. Vergleichbares ist auch bei Adib Fricke nachzulesen. Hier wird die Dynamik des menschlichen Gehirns »neuronale Plastizität« genannt. Die stetige Neustrukturierung neuronaler Verzweigungen führt zu neuen Ideen und Erfahrungen und kann zu einer Modifizierung von eingefahrenen Verhaltensmustern führen.

Doch macht mich der betriebsame mentale Umbauprozess auch glücklich, wie die gegenüberliegende Plakatwand suggeriert? Kognitionswissenschaftler würden dem zustimmen. In der Forschung wird dafür der Neurotransmitter Dopamin verantwortlich gemacht. Das Glückshormon entsteht während des Denkprozesses aus der Wechselwirkung von intellektueller Herausforderung und Hirnaktivität. Die Ausschüttung von Dopamin lässt sich demzufolge durch die Aktivierung unseres Denkorgans steuern. Wie die körperliche Bewegung macht auch Hirnfitness glücklich!

Etwa dreitausend Schritte später erfahren meine flaneuresken Glücksgefühle einen vorübergehenden Dämpfer. Mittlerweile stehe ich auf der Kurfürstenstraße. Die Sonne brennt auf mein Haupt. Ödnis, wohin ich blicke, als ich die Sätze du gehst anderen auf die Nerven und dein Gehirn sucht Freunde entdecke. »Die Gegend hat sich seit dem Mauerfall auch nicht verändert«, überlege ich, als plötzlich neben mir ein Reisebus hält. Kurze Zeit später bin ich von aufgeregten Touristen umgeben, die ein paar drogenabhängige Prostituierte ins Visier nehmen und ungehemmt fotografieren. Wer geht hier wem auf die Nerven? Während ich mich schnellen Schrittes davonmache, wende ich mich wieder meinem Handy zu und erfahre, was es mit meiner plötzlichen Gereiztheit auf sich haben könnte. Unser Dasein ist von Nachahmung geprägt. Sogenannte Spiegelneuronen sind dafür verantwortlich. Diese Nervenzellen sollen es uns ermöglichen, uns in andere Individuen hineinzuversetzen. Dabei geht unsere Fähigkeit zur Empathie noch weiter. Statt nur zu beobachten, empfinden wir die an anderen wahrgenommenen Gefühle selbst, ganz real. Und weiter entnehme ich der Projektwebseite, dass das menschliche Gehirn seine volle Entfaltung erst im Kontakt mit anderen Gehirnen erreicht. Dieses Konzept ist nicht neu – der Mensch als soziales Wesen. Es allerdings mit der Suche unseres Gehirns nach gleichgesinnten Gehirnen in Verbindung zu bringen, schon.

Im Vorbeigehen registriere ich noch deine Ideen verändern dein Gehirn. Später werde ich nachlesen, dass Verhalten und Gedanken ständig unser Gehirn verändern, ein neuronaler Prozess, der ein Leben lang anhält. Je vielseitiger eine Umgebung ist, desto stimulierender wirkt sie auf unser Gehirn. Jedoch nach zweieinhalb Stunden reflektierenden Promenierens dröhnt mir der Kopf und schmerzen die Füße. Ich habe viel gesehen, einiges gelernt und neuronal einsortiert. Ich habe fast zehntausend Schritte zurückgelegt und dabei neun Installationen im Stadtraum gesehen. Sicher ist bereits: Mein nächster Spaziergang wird mich nach Berlin-Mitte führen. Erst wenn ich dort gewesen bin, ist das Kunstwerk für mich komplett. In der Nähe des Alexanderplatzes zeigt eine Plakatwand dein Gehirn macht Sinn. Ich bin gespannt, wie Ort und Kunstwerk sich in meinem geistigen Kosmos zusammenfügen werden.

 

Kirsten Johannsen ist Künstlerin und hat über »Creative Activities in Space« promoviert.
Der Text erschien zuerst im Projekt-Katalog.

© 2014 bei der Autorin